„Bollerwagen, Lautsprecher, Powerbank, Hotspot. Der Rest ergibt sich.“ – Teil 2

Anregungen für eine gemeinwesenorientierte Mobile Jugendarbeit im digitalen Wandel

Im Rahmen des Forschungsprojektes „Smarte Jugendarbeit in Sachsen“ (www.ehs-dresden.de/smartejugendarbeit) wurden in den Jahren 2019 bis 2021 Interviews mit Fachkräften der Jugendarbeit in Sachsen geführt. Ein Ergebnis dieser Einblicke in die Praxis ist der nun vorliegende Artikel „Anregungen für eine gemeinwesenorientierte Mobile Jugendarbeit im digitalen Wandel“ von Johannes Brock und Kai Fritzsche.

Der LAK Mobile Jugendarbeit Sachsen wird diesen als dreiteilige Blog-Serie veröffentlichen und möchte damit wiederum Impulse in die Praxis geben, zur Diskussion anregen und zur Weiterentwicklung des Arbeitsfeldes Mobile Jugendarbeit/ Streetwork beitragen. Wir bedanken uns ganz herzlich bei Johannes Brock und Kai Fritzsche für die Zurverfügungstellung dieses Artikels. Ebenfalls bedanken wir uns bei den interviewten Fachkräften, die ihre produktiven Ideen, Meinungen und Überlegungen dieser Forschungsarbeit zur Verfügung stellten.

Fortsetzung von Teil 1

Aufsuchende Jugendarbeit in physischen und virtuellen Räumen

„Da schreibe ich bei Instagram, mache ich ein Bild, Halli Hallo, ich gehe jetzt raus auf Streetwork mit meiner Kollegin Madeleine. Und das wird gleichzeitig auf Facebook gepostet und dann können wir losgehen. Und wer uns dann kontaktieren will unterwegs, weil er weiß, wo wir gerade langlaufen, kann das zeitnah machen. Also das ist wirklich so einfach, das einfach in den normalen Tagesablauf mit einzubinden“ (FK_6[1]). Mit dieser Aussage einer Streetworkerin soll der Blick auf die Räume gelenkt werden, in denen die Begegnungen zwischen Fachkräften und Adressat*innen erfolgen. Deutlich wird, dass Begegnungen sowohl im physischen als auch im virtuellen Raum angestrebt werden. Bevor die Streetworkerin ihr Büro verlässt, öffnet sie virtuelle Räume der Begegnung auf Social Media Plattformen. Dann ist sie – ausgestattet mit einem Diensthandy – mit ihrer Kollegin im Stadtteil unterwegs und erwartet dort Kontakte. Beides ist ihr wichtig und beides ist in ihrer Arbeit miteinander verwoben: Die Begegnung im physischen Raum wird angekündigt und ermöglicht durch den Kontakt im virtuellen Raum. Und in der Begegnung im physischen Raum werden bereits die weiteren virtuellen Begegnungsmöglichkeiten mitgedacht. Physische und virtuelle Räume, Online- und Offline-Welten verschränken sich miteinander in ihrem Handeln. So werden die Räume zu hybriden Räumen (vgl. hybride-streetwork.de).

Hybrid ist – allgemein ausgedrückt – etwas Gebündeltes, Gekreuztes, Vermischtes. Hybridität ist ein Wahrnehmungsphänomen. Sie wird wahrgenommen, wenn bestehende Selbstverständlichkeiten (Typisierungen) irritiert werden. Die „Irritation besteht darin, dass wahrgenommen wird, dass etwas „Nichtzusammengehöriges“ verbunden ist, dass die gewöhnliche Ordnung/Separierung/Zuordnung nicht eingehalten wird: Es wird eine unübliche Komposition von Elementen festgestellt, die als Spannung, Inkonsistenz, Widersprüchlichkeit wahrgenommen wird. Die Selbstverständlichkeit ist durchbrochen, man muss eine Entscheidung treffen, eine neue Typisierung vornehmen oder sich die Weltvorstellung „korrigieren““ (Prisching 2017, S. 3). Hybride Streetwork ist demnach mit Irritationen verbunden. Sie ist eine „aufsuchende Arbeit, die bisher getrennt wahrgenommene Systeme zueinander in Beziehung setzt und damit neue Möglichkeiten schafft für die Wahrnehmung junger Menschen, für die Beziehungsaufnahme zu ihnen und für Interventionen“ (Brock 2017). Solche getrennt wahrgenommenen Systeme können auch als Dichotomien, als Systeme von Entweder-Oder bezeichnet werden. Für Streetwork relevante Dichotomien sind z. B. reale Welt und virtuelle Welt, digitale und analoge Kommunikation, Öffentliches und Privates oder auch Herkunftskultur und Ankunftskultur. Solche Typisierungen werden in einer hybriden Streetwork nicht als getrennte oder gegensätzliche Aspekte wahrgenommen. Sondern Chancen und Handlungsspielräume werden gerade in der Vermischung oder im Zusammendenken dieser Aspekte gesehen. 

Ich wüsste auch nicht, wie es anders gehen sollte. Es geht weder hundert Prozent das eine oder hundert Prozent das andere.

Madeleine

Aus ihrer alltäglichen Erfahrung heraus sagt die Streetworkerin Madeleine bezogen auf die Dichotomie von digitaler und analoger Kommunikation: „Ich wüsste auch nicht, wie es anders gehen sollte. Es geht weder hundert Prozent das eine oder hundert Prozent das andere. Und auch hier müssen wir irgendwie so einen Mix herausfinden“ (FK_13).

Nach de Souza e Silva (de Souza e Silva 2006, S. 261) verändern mobile digitale Technologien Raumgrenzen in dreifacher Hinsicht. Erstens verschwimmen die traditionellen Grenzen zwischen physischen und virtuellen Räumen. Zweitens werden durch digitale Technologien die Beziehungsnetzwerke durch soziale Netzwerke erweitert. Drittens werden damit Räume neu konfiguriert – sie werden hybride Räume.

Aufsuchende Arbeit ist lebensweltorientiert, sie ist auf Sozialräume bezogen und auf Beziehungsnetzwerke. Wenn Fachkräfte und Jugendliche in der aufsuchenden Arbeit selbstverständlich mobile digitale Technologien nutzen, werden nach de Souza e Silva also Räume und Beziehungsnetzwerke in einer anderen Qualität wahrgenommen. Bisherige Grenzziehungen und Konfigurationen werden irritiert. Lebenswelt kann nicht mehr entweder als analoge oder als digitale Lebenswelt beschrieben werden. Für die Fachkräfte ist vielmehr interessant, welche Möglichkeiten und welche Beschränkungen für das soziale Handeln des Subjekts in der Lebenswelt analysiert werden können. Das ist eigentlich eine Selbstverständlichkeit in der Geschichte der lebensweltorientierten Sozialarbeit, die aber aktuell mitunter durch die Abtrennung einer „digitalen Welt“ von einer „realen Welt“ in den Hintergrund tritt. Dieter Oelschlägel betonte schon in den 1980er Jahren: „Versteht man die Lebenswelt als einen Möglichkeitsraum, dann werden alle statischen, normativ abgeleiteten Zielvorstellungen fragwürdig. Ziele müssen sich an den konkreten Subjekten, ihren Erfahrungen und Kompetenzen orientieren. Dann werden nicht mehr abstrakte Ziele (Sich organisieren…) formuliert, sondern es wird „nach den objektiv vorhandenen Lebensumständen und nach den subjektiv vorhandenen Einfluss- und Veränderungsmöglichkeiten (Braun, S. 23) gefragt. Ein solches Fragen heißt allerdings Analyse, nicht Hineininterpretieren in die Lebenswelt“ (Oelschlägel 2007, S. 46).

Wenn Räume durch das Subjekt neu konfiguriert werden, können sie nicht statisch, dauerhaft festgelegt und definiert sein. Sie können nicht als Container gedacht werden, die durch einen für alle wahrnehmbaren Rahmen bestimmen, was in ihnen ist und was außerhalb. Sondern eine lebensweltorientierte Arbeit benötigt einen relationalen Raumbegriff. Für die Beschreibung digitalisierter Lebenswelten ist ein Raumbegriff geeignet, der nicht von starren, sondern von veränderlichen, fluiden Raumgrenzen ausgeht. Das Internet ist also kein zusätzlicher (Sozial-)Raum, der als weiterer Raumcontainer an das Gemeinwesen andockt. Sondern es kann Sozialräume erweitern oder auch beschränken, je nach den subjektiv vollzogenen Grenzziehungen. Jugendliche konstruieren durch ihre sozialen Handlungen – wo auch immer und mit welcher Technologie auch immer – Raum in einer bestimmten Konfiguration.

Die Herstellung von Raum kann als Verknüpfung von Lebewesen (inklusive des eigenen in Szene gesetzten Körpers) und sozialen Gütern (Gegenstände und Objekte mit ihrer jeweiligen Symbolkraft) aufgefasst werden (vgl. Löw 2001). Wenn die Streetworkerin und ihre Kollegin Madeleine auf Instagram ein Bild von sich posten und dazu schreiben, dass sie sich auf die anschließenden Streetworkkontakte freuen, stellen sie Raum durch Verknüpfungen und eine bestimmte Präsentation dieser Verknüpfungen (Inszenierung) her. Sie erweitern die Grenzen in ihrem Streetworkbüro durch die Nutzung von Social Media. Die Grenzverschiebung steht dabei in einem unmittelbaren Zusammenhang mit der Erfahrung von Möglichkeiten und Einschränkungen. Die beiden Streetworkerinnen schätzen die Möglichkeit der einladenden Kommunikation über Social Media mit Jugendlichen, die sich aktuell an für die Streetworkerinnen unbekannten Orten aufhalten. Gleichzeitig kennen sie Einschränkungen. Sie würden zum Beispiel in dieser Situation keine Beratungsgespräche beginnen, weil sie wissen, dass bestimmte Daten und Metadaten über die Kommunikationswege Instagram, Facebook und WhatsApp durch den Facebook-Konzern zusammengeführt, gespeichert und verarbeitet werden können. Der hergestellte Raum unterliegt also bestimmten (Macht-)Strukturen, die auf das Soziale ermöglichend oder beschränkend zurückwirken. In der Jugendarbeit – vor allem in der aufsuchenden Jugendarbeit – ist zu berücksichtigen, dass große Tech-Konzerne ein starkes Interesse an den Daten der Nutzerinnen ihrer Dienste haben. Aus diesen über viele Jahre hinweg zusammengetragenen Daten (inzwischen sind nahezu alle jungen Menschen in Deutschland über Jahre hinweg Nutzerinnen von Facebook-Diensten) können psychologische Profile („verwertbare Identitäten“) der Nutzerinnen geformt werden, die aktuell oder später als Grundlage für personalisiertes Marketing, für Kauf- und Versicherungsentscheidungen, Risikoeinschätzungen, Kriminalitätserwartungen u.v.m. eine Rolle spielen können. Für Algorithmen sind solche verwertbaren Identitäten die Grundlage von Berechnungen, unabhängig von den „wirklichen“ Merkmalen der aktuellen Identität der (Nicht-mehr-)Nutzerinnen. Die verwertbare Identität – gleich von welchen Institutionen sie zusammengesetzt wurde – könnte also gegebenenfalls in wichtigen Lebensfragen bedeutsamer werden als die aktuelle Identität. Fachkräfte mit dem Auftrag, junge Menschen auf ihrem Weg zu einer eigenverantwortlichen Persönlichkeit zu begleiten (SGB VIII, § 1), müssen diese Prozesse der Fremdbestimmung kennen und entsprechend der sozialarbeiterischen Ethik handeln.

Nach Läpple (1991) können vier Komponenten unterschieden werden, die solche Strukturen des gesellschaftlichen Raums ausbilden und damit die Konfiguration des Raums durch die Subjekte – Fachkräfte wie Adressat*innen – mitbestimmen: Erstens, das materiell-physische Substrat gesellschaftlicher Verhältnisse, das sich aus „den Menschen in ihrer körperlich-räumlichen Leiblichkeit“ und „den materiellen Nutzungsstrukturen der gesellschaftlich angeeigneten und kulturell überformten Natur“ (ebd. S. 196) zusammensetzt. Zweitens, die gesellschaftlichen Interaktions- und Handlungsstrukturen, die abhängig sind von verbreiteten Nutzungs- und Aneignungspraktiken (zur Aneignung von Raum vgl. Deinet 2009). Drittens, das institutionalisierte und normative Regulationssystem, das Eigentums- und Machtverhältnisse beschreibt, aber auch rechtliche, soziale und ästhetische Normen. Und viertens, das räumliche Zeichen-, Symbol- und

Repräsentationssystem, das anzeigt, welche sozialen Funktionen und welche Identifikationsmöglichkeiten der Raum bereithält. 

Raum wird also von den Subjekten nicht frei und unabhängig konstruiert, sondern immer unter den gesellschaftlichen Bedingungen, die mit diesen vier Komponenten gefasst und analysiert werden können.

Fachkräfte der aufsuchenden Jugendarbeit haben den Auftrag Räume so zu gestalten, dass sie zur Verbesserung der Lebensbedingungen ihrer Adressat*innen beitragen. Sie können digitale Medien nutzen

  • für die Öffentlichkeitsarbeit, bezogen auf die Lebenswelten und Bedürfnisse der Adressat*innen, aber auch bezogen auf die eigenen Beiträge zur Mitgestaltung von Räumen und zur Verbesserung von Lebensbedingungen,
  • für die Positionierung in der Öffentlichkeit, um Diskriminierungs- und Ausgrenzungsprozessen entgegenzutreten,
  • um den Dialog mit im Konflikt stehenden Gruppen anzuregen,
  • um die Hilfelandschaft durch Vernetzung und Kooperation weiter zu entwickeln,
  • um ehrenamtliche Initiativen und weitere zivilgesellschaftliche Akteure stärker einzubeziehen,
  • um Meinungen und Stimmungslagen zu erkunden,
  • um Abstimmungen, Debatten und Aktionen anzustoßen,
  • um die Beteiligung an lokalen Planungsprozessen durch schnelle Kommunikationswege aufrecht zu erhalten,
  • um zum Mitmachen und zur aktiven Gestaltung des Gemeinwesens einzuladen (Aktivierung und Beteiligung) (vgl. LAG MJA/SW Ba-Wü 2019).

„Vorteil: Für junge Menschen kann sich der Einsatz von digitalen Beteiligungsformen positiv auf die Teilnahme und Aktivität auswirken, da es sich um ein niedrigschwelliges Angebot handelt. Zudem sind verschiedene Grade an Engagement möglich, sodass Personen eigenständig entscheiden können, wie sehr sie sich einbringen. Gleichwohl ist es gerade hier für die Adressat*innen potentiell leichter, die Stimme zu erheben und bietet somit eine neueMöglichkeiten der Mitbestimmung.
Nachteil: Auch hier werden bestimmte Personengruppen (Ältere, Kranke) u. U. nicht erreicht, sodass es neben neuen digitalen Beteiligungsformaten auch weiterhin analoge Formen und Möglichkeiten der Beteiligung (Stadtteilrunde, Gemeindetreff) braucht. Digitale Formen der Beteiligung sind kein Selbstläufer, da die Adressat*innen auch hieran erinnert und ggf. motiviert werden müssen, um sich aktiv einzubringen.“ (ebd., S. 23)


Im dritten und abschließenden Teil des Artikels, dieser wird am 13.09.21 veröffentlicht, wird es um Gaming, Partizipation und Bildung in der Mobilen Jugendarbeit gehen.


[1] In dieser Handreichung werden Auszüge aus Interviews verwendet, die mit Fachkräften der Jugendarbeit in Sachsen geführt wurden. Die Interviews wurden im Rahmen des Forschungsprojekts „Smarte Jugendarbeit in Sachsen“ durchgeführt. Dieses Forschungs- und Praxisentwicklungsprojekt arbeitete in den Jahren 2018 bis 2021 am apfe-Institut an der Evangelischen Hochschule Dresden. Die Zitate werden durch das Kürzel FK_x (Fachkräfte-Interview Nr. x) kenntlich gemacht. Nähere Angaben zum Forschungsprojekt enthält die Seite www.ehs-dresden.de/smartejugendarbeit.


Literatur

Braun, Karl-Heinz (1986): Wie können Erziehungsziele in der Sozialarbeit begründet werden? In: Fortschrittliche Wissenschaft. Wien 16/1986, 22-36

Brock, Johannes (2017): Hybride Streetwork. In: sozialraum.de (9) Ausgabe 1/2017. URL: https://www.sozialraum.de/hybride-streetwork.php (Abruf: 26.07.21)

Deinet, Ulrich (2009): „Aneignung“ und „Raum“ – zentrale Begriffe des sozialräumlichen Konzepts. In: Deinet, Ulrich (Hrsg.): Sozialräumliche Jugendarbeit. Grundlagen, Methoden und Praxiskonzepte. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwirtschaften. 3., überarbeitete Auflage

de Souza e Silva, A. (2006): From Cyber to Hybrid. Mobile Technologies as Interfaces of Hybrid Spaces. In: space and culture vol. 9, no. 3, Sage Publications

Landesarbeitsgemeinschaft Mobile Jugendarbeit/ Streetwork Baden-Württemberg e.V. (2019): Digital.Total?! Handreichung zum Umgang mit Social Media in der Mobilen Jugendarbeit. Stuttgart

Läpple, Dieter (1991): Essay über den Raum. Für ein gesellschaftswissenschaftliches Raumkonzept. In: Häußermann, Hartmut et al. (Hrsg.): Stadt und Raum. Soziologische Analysen, Pfaffenweiler: S. 157-207.

Löw, Martina (2001): Raumsoziologie. Frankfurt a. M.: Suhrkamp

Oelschlägel, Dieter (2007): Lebenswelt oder Gemeinwesen? Anstöße zur Weiterentwicklung der Theorie-Diskussion in der Gemeinwesenarbeit. In: Hinte, Wolfgang/ Lüttringhaus, Maria/ Oelschlägel, Dieter: Grundlagen und Standards der Gemeinwesenarbeit. Ein Reader zu Entwicklungslinien und Perspektiven. Weinheim und München: Juventa, 2. aktualisierte Auflage

Prisching, Manfred (2017): Was kann Hybridität bedeuten? – Definitionsvorschlag. In: Betz, G. J./Hitzler, R./Niederbacher, A./Schäfer, L. (Hrsg.): Hybride Events. Zur Diskussion zeitgeistiger Veranstaltungen. Wiesbaden: Springer VS