„Hufeisen?“ – Vier kritische Thesen zum Extremismuskonzept

Ein Aufsatz aus dem Jahr 2024 entstanden im Rahmen der AG Extrem, die ein Zusammenschluss von Modellprojekten aus dem Handlungsfeld der Rechtsextremismusprävention, die im Rahmen des Bundesprogrammes „Demokratie Leben!“ gefördert werden ist.

Einleitung

Angestoßen von den Auswertungsfragen im Rahmen einer wissenschaftlichen Begleitung der Modellprojekte sahen wir uns mit der Frage konfrontiert, mittels welcher Begrifflichkeiten und dahinter liegenden Annahmen unsere Arbeit evaluiert und bewertet werden sollte. Ein zentraler Begriffscontainer ist in diesem Kontext beispielsweise „Extremismusprävention“, ein Schlagwort, unter dem letztlich auch die sehr diversen und ausdifferenzierten Arbeitsweisen und Handlungsmodelle der verschiedenen Modellprojekte subsumiert werden sollten. Aus Sicht unserer Praxis und unseren sozialwissenschaftlichen Bezugspunkten ist dies aber nicht nur eine unhaltbare Vereinfachung, sondern schlicht eine falsche Darstellung. Der Vergleich unterschiedlicher thematischer Handlungsfelder innerhalb des „Demokratie Leben!“- Förderprogramms (vor allem „Rechtsextremismus“, „Islamistischer Extremismus“ und „Linker Extremismus“) und damit die Reduzierung komplexer Sachzusammenhänge auf symptomatische Auswirkungen mag politisch gewollt sein – bleibt aber dennoch faktisch falsch. Als Projektträger*innen, die seit vielen Jahren im Feld der Rechtsextremismusprävention tätig sind, sehen wir nicht nur die Gefahr, dass ein hohes Maß an Fachlichkeit und Expertise, die wir aus unseren Netzwerken und Arbeitszusammenhängen kennen, bei einer solchen Darstellung nicht gehört wurden, sondern auch die weitaus größere Gefahr, dass gewonnene Erkenntnisse (gerade im Hinblick auf das Wechselspiel zwischen einer vermeintlich neutralen Mitte und extrem rechten Einstellungen) auf diese Weise negiert werden.

Die Erkenntnis, dass die größte Gefahr für die Demokratie von Rechts ausgeht, sollte kein Wahlkampf-Slogan bleiben, sondern sich sowohl in öffentlichen Debatten, als auch in Finanzierung, Ausstattung und gesetzlichen Grundlagen widerspiegeln. Um diese Fragen zu diskutieren, haben wir uns als AG zusammengeschlossen und gemeinsam die folgenden Thesen als Diskussions- und Informationsgrundlage verfasst. Wir versuchen auf Basis der hier geteilten Thesen durch Netzwerkarbeit, öffentliche Statements und Veranstaltungen auf das Problemfeld aufmerksam zu machen und hoffen, dass sich perspektivisch sozialwissenschaftlich fundierte Erkenntnisse in Bezug auf Begrifflichkeiten und Haltungen durchsetzen und keine verkürzten, autoritären politischen Agenden, wie sie von Verfechter*innen der „Extremismustheorien“ mit Hilfe von Behörden, Polizei und Verfassungsschutz forciert werden.

Was ist das Extremismuskonzept?

Die Grundlage für die Extremismustheorie legten vor allem Uwe Backes und Eckhardt Jesse, die „Abwehrhaltungen gegen Grundprinzipien freiheitlicher Demokratie“ als „extremistisch“ bezeichnen. Die Theorie abstrahiert mithin von den Inhalten, auf die sich unsere Kritik bezieht und setzt normativ eine bestimmte Form von Demokratie: die durch die Wortfolge „freiheitlich demokratische Grundordnung“ bezeichnete bürgerlich-parlamentarische Form, in der das Volk indirekt von Politiker*innen vertreten wird (siehe hierzu auch These 4). In der wissenschaftlichen Debatte wird dieser Ansatz kontrovers diskutiert.1

Die Extremismustheorie ist in ihrer historischen Genese von der Vorstellung geprägt, der Nationalsozialismus sei dadurch zur Macht gelangt, dass die Weimarer Republik von rechten und linken Kräften zermürbt wurde. Diese These ist kontrafaktisch, da der Nationalsozialismus in der breiten Gesellschaft Zustimmung erfuhr und insbesondere durch die Unterstützung von Konservativen in Regierungsverantwortung gelangen konnte – und zwar durch Mittel und Argumente, die auch Bestandteil der Extremismustheorie sind wie der Vorrang der Exekutive und eine Ablehnung liberaler Rechtsauffassung. Die Extremismustheorie trägt diese Vorstellung in die Gegenwart und externalisiert die Gefahren von autoritären, antidemokratischen Denkmustern in der Gesellschaft, indem sie das Problem ausschließlich auf die vermeintlichen politischen Ränder verschiebt und individualisiert. Diese politischen Ränder werden innerhalb der Extremismustheorie oft in Form eines Hufeisens dargestellt.

1 Inhaltliche Dimension

Die Extremismustheorie und die daraus resultierende Logik staatlichen Handelns stellt die verfassungsrechtlich nicht näher spezifizierte „freiheitlich demokratische Grundordnung“ Bundesverfassungsgericht, diese Begriffsbestimmung ist jedoch – auch verfassungsrechtlich – (fdGO2), in den Mittelpunkt. Zwar existiert ein Klärungsversuch dieses Begriffs durch das umstritten. Ihre Unschärfe führt zu einem unklaren Freund-Feind-Denken in „normale/ legitime“ und „unnormale/ illegitime“ Teilnehmer*innen an der politischen Willensbildung. Wo jedoch die terminologische Basis unbestimmt ist, bleibt auch die darauf aufbauende Theorie notwendigerweise unzureichend. Entsprechend lässt sich die fdGO für verschiedene politische Ziele einspannen, je nachdem, wie dieser inhaltlich abstrakte Begriff gefüllt wird. Dass auch der Klärungsversuch des Bundesverfassungsgerichts umstritten ist, zeigt zudem, dass die rationale Auseinandersetzung um die Ausgestaltung von Demokratie und Freiheit nicht einfach durch Autorität verordnet werden kann. Es bedarf gerade einer inhaltlich geführten Auseinandersetzung und Kritik, denn Demokratie lebt gerade davon, dass kein Bereich gesellschaftlicher Herrschaft der Deliberation der Bürger*innen entzogen wird. Dagegen macht die Extremismustheorie den Schutz der Demokratie zur Aufgabe der Exekutive gegen die demokratischen Prinzipien einst erkämpft wurden. Diese „Prinzipien“ werden heute von der Exekutive gegen die Politik der Bürger*innen ins Feld geführt – und das anhand der Einschätzung des Inlandgeheimdienstes.“3 Die hinter der Extremismustheorie stehende Vorstellung, die Demokratie könne gegen sich selbst gewendet, mittels der Demokratie die Demokratie abgeschafft werden, wurde nicht zufällig vom Verschwörungsideologen Ken Jebsen während der Corona-Pandemie gebraucht. Dahinter steht die Idee von allzu leicht manipulierbaren Bürger*innen, denen man daher in ihrem eigenen Interesse wesentliche Bereiche ihrer Entscheidungsbefugnisse entziehen sollte.

Völlig verkannt wird hier, dass der NS-Staat, aus dessen Herrschaft die Extremismustheorie eine Lehre ziehen möchte, nicht durch rein demokratische Entscheidung oder vorrangig legale Mittel zustande kam, sondern deutlich auf Gewalt gegen politische Gegner*innen, die Einschüchterung der Opposition sowie die Notverordnung und „die Verächtlichmachung liberalen Rechts und formaler Gleichheit für alle“4 setzte.

Definition BVerfGE:

  • „[…] eine Ordnung, die unter Ausschluss jeglicher Gewalt- und Willkürherrschaft eine rechtsstaatliche Herrschaftsordnung auf der Grundlage der Selbstbestimmung des Volkes nach dem Willen der jeweiligen Mehrheit und der Freiheit und Gleichheit darstellt. Zu den grundlegenden Prinzipien dieser Ordnung sind mindestens zu rechnen: die Achtung vor den im Grundgesetz konkretisierten Menschenrechten, vor allem vor dem Recht der Persönlichkeit auf Leben und freie Entfaltung, die Volkssouveränität, die Gewaltenteilung, die Verantwortlichkeit der Regierung, die Gesetzmäßigkeit der Verwaltung, die Unabhängigkeit der Gerichte, das Mehrparteienprinzip und die Chancengleichheit für alle politischen Parteien mit dem Recht auf verfassungsmäßige Bildung und Ausübung einer Opposition.“5

2 Strukturelle Dimension

Die Extremismustheorie setzt den Staat und seine Institutionen als in letzter Instanz unfehlbar und neutral voraus. Damit schützt sie die staatlichen Institutionen auch vor legitimer Kritik. Legitime Kritik bedeutet für uns eine kritische Auseinandersetzung sowohl mit entsprechenden menschenfeindlichen Einstellungen (z.B. Rassismus) innerhalb der Gesellschaft als auch mit institutionalisierten Abwertungsmechanismen/ Diskriminierungsmechanismen. Innerhalb unseres Tätigkeitsfeldes ist es elementar, Ideologien der Ungleichwertigkeit zu thematisieren und zu dekonstruieren. Das bedeutet für uns auch, in den Widerspruch zu bestehenden Verhältnissen zu treten, ohne dabei die eigene Fachlichkeit abgesprochen zu bekommen oder möglichen Repressionen und Ausschlüssen ausgesetzt zu sein.

3 Strategische Dimension

Die Extremismustheorie stellt Bestrebungen, die bestehende gesellschaftliche Ordnung hin zu einem autoritären Staatsmodell aufzulösen, auf eine Ebene mit Bewegungen, die sich dafür einsetzen, das Versprechen auf ein demokratisches und soziales Miteinander einzulösen. So wird beispielsweise staatlicherseits ein §129 Verfahren gegen die Klimabewegung angestrebt und dadurch demokratisch legitimer und notwendiger Protest kriminalisiert. Dabei bleibt außer Acht, welche Motivationen hinter den jeweiligen (z.T. tiefgreifenden) Veränderungsimpulsen an Institutionen (z.B. Reformierung des Verfassungsschutzes) oder den Veränderungswünschen an tradierten gesellschaftlichen Praktiken (z.B. Gleichstellung unterschiedlicher Partnerschaftsmodelle – in Ergänzung zur tradierten Mutter-Vater-Kind-Ehe) stehen.

Auf diese Weise werden notwendige, aus der Gesellschaft angestoßene, demokratischeProzesse blockiert oder verhindert. Sie werden durch diese Form von Gleichsetzung delegitimiert. Um einer demokratischen Gesellschaft gerecht zu werden, sind diese Aushandlungsprozesse jedoch in all ihrer Widersprüchlichkeit notwendig. Daher dient das Hufeisen vielmehr als Strategie im politischen Wettbewerb. Denn entgegen ihrer eigenen Behauptung argumentiert die Extremismustheorie nicht aus der Perspektive einer unparteiischen Mitte, sondern stellt selbst eine politische Positionierung dar.

4 Praktische Dimension

Die Extremismustheorie verschleiert in der Praxis die tatsächlichen Gefahren durch autoritäre und antidemokratische Denkmuster und entpolitisiert die Debatten zu den gesellschaftlichen Herausforderungen.

Durch den Fokus der Extremismustheorie auf die vermeintlichen politischen Ränder wird ein kritischer Blick auf die bürgerliche Gesellschaft verweigert. Gleichzeitig werden menschenfeindliche Einstellungen ignoriert, die aus den ihr inhärenten Verhältnissen entstehen. Durch diese Perspektive werden demokratiegefährdende Einstellungen und Dynamiken innerhalb einer bürgerlichen Gesellschaftsstruktur übersehen. Langfristig gerät dabei vor allem die Frage aus dem Blick, was wir alle gemeinsam ändern müssen, um in einer besseren, freieren und solidarischeren Gesellschaft leben zu können.

Fazit

Die Extremismustheorie ist ein Konzept mit großen Lücken. Es gibt andere wissenschaftliche Ansätze, die besser geeignet sind die gesellschaftliche Realität zu beschreiben. Zu nennen sind hier u.a. Wilhelm Heitmeyers Konstrukt der Gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit (GMF) und die Theorie der Pauschalisierenden Ablehnungskonstruktionen (PAKOs) von Kurt Möller.

Die Extremismustheorie trägt nicht dazu bei, die Gesellschaft besser zu verstehen. Vielmehr simplifiziert sie nur auf eine Opfer-Täterperspektive, die nicht dazu beiträgt, politisch inhaltliche und gesellschaftliche Phänomene (z.B. das Zusammenleben von Individuen oder das Gefährdungspotenzial von Marginalisierten) zu beschreiben oder zu verbessern. Qualifizierte Lösungsansätze lassen sich auf dieser Grundlage nicht entwickeln.

Die Konzepte GMF und PAKOs beschreiben im Gegensatz problematische Haltungen in der Gesamtgesellschaft und nehmen hier auch Abstufungen und Dynamiken in den Blick. Dadurch bieten sie pädagogischen Fachkräften und politischen Bildner*innen ein grundlegendes Analysetool für fachliches Agieren. Der Fokus auf vermeintlich im Individuum angelegte Ursachen nach der Extremismustheorie blendet strukturelle Ursachen für autoritäre Denkmuster aus und greift somit zu kurz. Ansatzpunkte für positive Veränderungen bei Bürger*innen hin zu Gleichwertigkeitsvorstellungen und demokratischen Praktiken (basierend auf einem Demokratieverständnis als Lebens-, Herrschafts- und Gesellschaftsform) finden sich so nicht, weil Veränderungsimpulse, die sich auf die gesellschaftlichen Beziehungsweisen der Menschen auswirken, für die Extremismustheorie nicht mitbedacht sind. Wird das Problem aber auf die Einstellungsmuster der Menschen reduziert, trägt das als Analyse zum heute beobachtbaren Zynismus in Teilen der Gesellschaft bei, indem für die allermeisten eine positive Austragung der gesellschaftlichen Konflikte verstellt wird.

Wir plädieren für den Kontext von pädagogischer, sozialpädagogischer und politisch bildnerischer Arbeit auf den Extremismusbegriff zu verzichten. Wir treten Tendenzen, politische Bildung stark an sicherheitspolitische Denkmuster heranzuführen, entschieden entgegen.

Wir, als langjährig im Feld der Rechtsextremismusprävention Tätige, erwarten, dass:

  • Fachkräfte in ihrer Fachlichkeit und Expertise wahrgenommen zu werden.
  • unsere Erkenntnisse zum Wechselspiel zwischen „bürgerlicher“ Gesellschaft und „extrem rechten“ Einstellungen ernst genommen werden und in Handlungsstrategien einfließen.
  • der Satz „die größte Gefahr für die Demokratie geht von Rechts aus!“ nicht nur Wahlkampfslogan ist, sondern sich in Finanzierung, Ausstattung und gesetzlichen Grundlagen widerspiegelt.

Fußnoten

1 vgl. Baron/Drücker/Seng (2018); Bürgin (2021); Ionescu.

2 Der Begriff der freiheitlich demokratischen Grundordnung (fdGO) wird im Grundgesetz selbst nicht definiert. Erst das Verfassungsgericht definierte, was darunter zu verstehen sei. Diese Praxis ist politisch und verfassungsrechtlich umstritten.

3 vgl. Schulz (2020), S. 368.

4 vgl. ebd., S. 369.

5 BVerfGE 2,1 Ls. 2, 12 f.4

Literaturverzeichnis

Baron, Philip; Drücker, Ansgar und Seng, Sebastian (Hrsg.) (2018): Das Extremismusmodell; Über seine Wirkungen und Alternativen in der politischen (Jugend)Bildung und der Jugendarbeit, Düsseldorf, IDA.

Bürgin, Julika (2021): Extremismusprävention als polizeiliche Ordnung: zur Politik der Demokratiebildung, 1. Auflage. Aufl., Weinheim, Beltz Juventa.

BVerfGE¸Tschentscher, LL.M., Prof. Dr. Axel: Definition BVerfGE, Verfassungsrecht (https://www.verfassungsrecht.ch/), https://www.servat.unibe.ch/tools/DfrInfo?Command=ShowPrintText&Name=bv002001.

Ionescu, Dr. Dana: Themenflyer Anti-Extremismus, MBT Niedersachsen, https://mbt-niedersachsen.de/wp-content/uploads/2021/02/mbt_folder_serie2020_antisemitismus_v10a_ansicht.pdf.

Schulz, Sarah (2020): Demokratie, geschmiedet wie ein Hufeisen?: Wer die Vorfälle in: Thüringen verstehen will, muss zu den ideologischen Tiefenschichten vorstoßen, in: PROKLA. Zeitschrift für kritische Sozialwissenschaft, Vol. 50, S. 363–370.