Mobile Jugendarbeit/ Streetwork in der Corona-Pandemie
Eine aktuelle Situationsbeschreibung
Die Auswirkungen der Corona-Pandemie haben in den letzten Tagen und Wochen zu tiefgreifenden Einschnitten in gesellschaftliche Bezüge geführt, sei es durch Angst vor Krankheit, Tod und dem Verlust von Menschen, den Maßnahmen zum Eindämmen der raschen Verbreitung des Virus oder den daraus entstehenden Folgen wie Sorgen um die persönliche Zukunft und wirtschaftliche Unsicherheiten. Auch die Arbeitsfelder Mobile Jugendarbeit/ Streetwork sehen sich mit der immensen Herausforderung konfrontiert, innerhalb kürzester Zeit bestehende Beziehungen meist auf digitalen Wegen zu erhalten, besonders vulnerable Gruppen zu schützen und zu unterstützen, Angebote neu auszurichten, Finanzierungsfragen zu klären und das eigene persönliche Wohl nicht zu vernachlässigen. Der Landesarbeitskreis Mobile Jugendarbeit Sachsen e.V. möchte hier einen Überblick geben über die derzeitige Situation Mobiler Jugendarbeit/ Streetwork in Sachsen:
Die Flexibilität als eine Stärke der Arbeitsfelder Mobile Jugendarbeit/ Streetwork zeigt sich zurzeit besonders, wenn sich Gesellschaft schlagartig wandelt und gewohnte Verhaltensweisen und Tagesabläufe nicht mehr befolgt werden können. Die in den Projekten entwickelten Ideen und Lösungen sind dabei stark abhängig vom jeweiligen Sozialraum, lebenswelt- und bedarfsorientiert sowie entscheidend beeinflusst von den Rahmenbedingungen und dem Verhältnis zum jeweiligen öffentlichen Träger der Jugendhilfe. Grundsätzlich lässt sich konstatieren, dass die einzelnen Projekte weiterhin arbeitsfähig sind.
Mobile Jugendarbeit/ Streetwork entfalten dabei unter erschwerten Bedingungen an vielen Stellen eine ganz spezifische Wirkung im gesellschaftlichen Ausnahmezustand, sei es durch Kriseninterventionen in der Einzelarbeit, bei der Beratung und Begleitung von konflikthaften Gruppenprozessen oder durch unkomplizierte Unterstützungsangebote im Gemeinwesen. Die Bedeutung dieser Arbeit für die Gesellschaft bedarf dabei dringend mehr Anerkennung und Aufmerksamkeit, dies muss an dieser Stelle ganz deutlich betont werden.
Rahmenbedingungen
Beeindruckend sind die Berichte derjenigen Fachkräfte, die schon lang als Einzelkämpfer*innen tätig sein müssen und es trotzdem schaffen, ihr Angebot neu auszurichten, Notprogramme zu initiieren und als Ansprechpartner*innen nicht nur für junge Menschen, sondern auch für Eltern und für vielfältige Akteur*innen des Gemeinwesens präsent zu sein. Hinzu kommt in diesen Fällen ein erhöhter Aufwand durch die fehlende Möglichkeit der Reflexion im Team, einer alleinigen Verantwortung für die Aufrechterhaltung der Kontakte und der mangelnden Option Arbeitslast aufzuteilen. Auf andere Art und Weise herausgefordert sind Fachkräfte dort, wo die technische Ausstattung mangelhaft ist, jetzt vielleicht Anschaffungen notwendig wären aber nicht möglich sind oder der Druck steigt private Mittel einzusetzen, um das Angebot aufrecht zu erhalten (zum Beispiel private Geräte für den Videochat zum Einsatz zu bringen).
Adressat*innen
Die Diversität der Adressat*innen Mobiler Jugendarbeit/ Streetwork macht sich natürlich auch in der jetzigen Situation bemerkbar. Ein großer Teil der jungen Menschen konnte Verständnis entwickeln für die einschneidenden Maßnahmen in ihre persönliche Freiheit sich in Gruppen zu treffen wann und wo sie wollen. Andere schaffen es derzeit noch nicht, dieses Verständnis zu entwickeln, sehen sich als nicht gefährdet an und schlussfolgern daraus für sich keine Verantwortung gegenüber anderen Teilen der Gesellschaft. Wieder andere verfallen in Verschwörungstheorien. Pädagogische Prozesse benötigen Zeit und bleiben auch in einer Krise langfristig ausgerichtet in ihrer Dauer aber auch in ihren Wirkungen. Dort wo die Menschen noch erreichbar sind, wird es sich lohnen, diese Prozesse fortzusetzen, aufzuklären und zu sensibilisieren aber auch durch Hinterfragung des Verhaltens der jungen Menschen Ansätze zu finden für den weiteren pädagogischen Prozess. Ganz akut betroffen sind junge Menschen in Armut, ohne Wohnung oder Betroffene häuslicher Gewalt. Teilweise zeigen sich hier massive Konsequenzen durch die Notwendigkeit der Einschränkung der Arbeit, zum Beispiel, wenn kein Telefon vorhanden ist, um überhaupt Kontakt zu halten. Große Probleme sehen die Kolleg*innen dort, wo Suchtberatungsstellen geschlossen haben. Außerdem beschäftigt die Fachkräfte die Sorge um die Situation von jungen Menschen, welche nun keine Rückzugsräume mehr aus ihrer Familie haben.
Aufsuchende Arbeit
Bei der aufsuchenden Arbeit zeigen sich im Groben zwei Vorgehen. Es gibt Sozialräume, in denen keine aufsuchende Arbeit mehr umgesetzt wird, teilweise auf Empfehlung des Jugendamtes, teilweise auf Anweisung des Trägers. In anderen Regionen sind hingegen Streetworker*innen weiter im öffentlichen Raum unterwegs, entweder um Aufklärungs- und Sensibilisierungsarbeit zu leisten oder um Notangebote für Menschen ohne Wohnung vorzuhalten. Teilweise gibt es hier auch konkrete Bitten des Jugendamts zur Aufrechterhaltung der aufsuchenden Arbeit. In den Fällen, wo aufsuchende Arbeit noch durchgeführt wird, machen sich Spannungsfelder bei den Fachkräften auf: Einerseits wird hinterfragt, inwieweit es sich hier um einen ordnungspolitischen Auftrag handelt bei gleichzeitiger grundsätzlicher Einsicht in die Notwendigkeit des ‚Social Distancing‘. Andererseits wird auch ganz praktisch die Unmöglichkeit aufgezeigt gleichzeitig als Vorbild zu wirken und trotzdem im öffentlichen Raum präsent zu sein.
Überall wird versucht die bestehenden Kontakte über Telefon, Messenger-Dienste und Social-Media-Kanäle aufrechtzuerhalten. Teils werden feste Zeiten der Erreichbarkeit vorgehalten, etwa im Rahmen der üblichen Öffnungszeit der Beratungsstelle. Es zeigt sich bei allem Ausprobieren, auch bisher unbekannter Tools und Anwendungen, die Schwierigkeit einer datenschutzkonformen und sicheren Kommunikation, welche gleichzeitig an der Lebenswelt der jungen Menschen andockt. Möglicherweise lassen sich nun Expertise und Wissen generieren, welche auch längerfristig nutzbar sein werden. Um Aufklärungsarbeit zu leisten und Tipps gegen die Langeweile zu geben, finden sich vielfältige Ideen bei den einzelnen Projekten. Plakataktionen im öffentlichen Raum, die Einrichtung eines YouTube-Channels, Livevideos bei Facebook und Kontaktzeit im Discord-Channel sind nur einige Beispiele.
Einzelarbeit
Auch intensivere Begleitungsprozesse werden nun vorwiegend über Telefon und Messenger-Dienste geführt. Teilweise finden Beratungen noch in Büros, im Garten oder im Freien statt, wenn es dringlich und nicht anders möglich ist. Hingewiesen wird insbesondere auf akute Fälle bei Wohnungslosigkeit, Suchterkrankungen und Armut, die aufgrund von Schließungen anderer Einrichtungen und Ämtern kurzfristige und kreative Lösungen benötigen. Hier zeigen sich besonders starke psychische und physische Belastungen der Streetworker*innen. Die Fachkräfte konstatieren weiterhin, dass die Beratung am Telefon anspruchsvoller ist und an Grenzen stößt dort, wo nonverbale Kommunikation greifen würde, wo Gesten, auch per Videotelefonie, zumindest anders wirken. Die Online- oder Telefonberatung stößt auch dort an Grenzen, wo potentielle Straftatbestände thematisiert werden wollen und die bestehenden Möglichkeiten der Überwachung dies nicht zulassen. Wegbleibende Kontakte, welche sonst auf der Straße wieder angetroffen worden wären, sind nun weitaus schwieriger zu erhalten, erwartet wird hier auch jetzt schon eine starke Zunahme der Arbeitsbelastung nach Lockerung der Schutzmaßnahmen.
Gruppenarbeit
Alle bisher geplanten Projekte und Gruppenangebote der Mobilen Jugendarbeit/ Streetwork wurden abgesagt oder verschoben. Dies bedeutet einen enormen Einschnitt in erarbeitete Organisationsstrukturen, teilweise auch mit finanziellen Auswirkungen. Vor allem bedeutet es aber einen tiefen Einschnitt in der gruppenpädagogischen Arbeit. Wie beschrieben wird auch hier versucht in digitale Räume auszuweichen, teilweise erstmalig, weil bisher nie die Zeit dafür war.
In einzelnen Projekten entstehen aus der Krisensituation neue Angebote von und für Gruppen, wie beispielsweise Einkaufshilfen für ältere Menschen im Gemeinwesen, verbunden mit großem organisatorischem Aufwand, jedoch auch positiven Erfahrungen einer wachsenden Selbstorganisation und des Erlernens gesellschaftlicher Verantwortung.
Arbeit im Gemeinwesen
Die Arbeit im Gemeinwesen wird schon aufgrund der Tatsache, dass viele Angebote ebenfalls derzeit geschlossen sind, stark eingeschränkt. Weiterhin möglich bleibt an vielen Stellen die Netzwerkarbeit über Telefon und E-Mail. Hier gelingt es Mobiler Jugendarbeit/ Streetwork in den einzelnen Gemeinwesen die derzeit stattfindende Flut an Informationen für die Adressat*innen aufzubereiten, teils zu übersetzen und mittels Gesprächen mit unterschiedlichen Akteur*innen auch Konflikte zu bearbeiten und unterschiedliche Interessenlagen zu transportieren.
Ebenfalls positiv ins Gemeinwesen hinein wirken Projekte wie die bereits skizzierte Einkaufshilfe oder die Errichtung und Betreuung von sogenannten Gabenzäunen für bedürftige Menschen.
Konzeptionelle Arbeiten/ Sozialraum- und Bedarfsanalysen
Einige Projekte nutzen freiwerdende Kapazitäten um Querschnittsaufgaben zu bearbeiten, für welche sonst oftmals die Zeit fehlte. Neben der gerade massiv steigenden Recherchearbeit und Qualifizierung zu digitalen Tools, teilweise notwendigen Renovierungs- und Organisationsarbeiten werden auch Konzepte überarbeitet und angepasst. Auch Sozialraum- und Bedarfsanalysen werden online umgesetzt und können, zum geeigneten Zeitpunkt durch gruppenbezogene Methoden im öffentlichen Raum ergänzt werden.
Herausforderungen und Ungewissheiten
Neben den beschriebenen pädagogischen Herausforderungen die Adressat*innen betreffend sehen sich die Projekte mit vielfältigen und teilweise existenzbedrohenden Herausforderungen konfrontiert. So gibt es zum Teil Unsicherheiten, ob es zu Rückforderungen aufgrund nicht geleisteter Arbeit kommen könnte; es wird davon ausgegangen, dass der Rechtfertigungsdruck gegenüber dem öffentlichen Träger zunehmen wird. Andernorts sind die Befürchtungen der Streichung von Angeboten sehr akut und belasten Träger wie Mitarbeiter*innen. Stellenweise haben Fachkräfte mit einer extrem hohen Arbeitsbelastung zu kämpfen, gleichzeitig gibt es Projekte, welche die Arbeitszeit ihrer Mitarbeiter*innen wohl nicht auf Dauer gefüllt bekommen. Wenn das Sozialdienstleister-Einsatzgesetz (SodEG) einen guten Weg in die kommunale Praxis findet, können sicherlich einige finanziellen Hürden gemeistert werden, jedoch wird es nun auch zur Herausforderung werden die als 75-% formulierte Obergrenze des finanziellen Ausgleichs durch den Bund, vor Ort und in Verantwortung des örtlichen öffentlichen Trägers nach oben zu verschieben um Träger und Projekte vor dem finanziellen Aus zu bewahren. Ebenso in Verantwortung zu nehmen sind die örtlichen öffentlichen Träger in einer auf Vertrauen und Transparenz bauenden Kooperation mit den freien Trägern. Besonders in jenen Regionen, wo diese Fundamente der Zusammenarbeit nur mäßig vorhanden sind, wo Projekte überwacht und kontrolliert werden und ständig mit Einsparungen rechnen müssen, sind die Sorgen und Ungewissheiten nun am größten. Es ist hier deutlich festzuhalten, dass die öffentlichen Träger ihrer Verantwortung gerecht werden und die Grundlagen schaffen müssen für eine nachhaltige und verlässliche Jugendarbeit, auch und insbesondere in einer Krisenzeit.