„Bollerwagen, Lautsprecher, Powerbank, Hotspot. Der Rest ergibt sich.“ – Teil 3

Anregungen für eine gemeinwesenorientierte Mobile Jugendarbeit im digitalen Wandel

Im Rahmen des Forschungsprojektes „Smarte Jugendarbeit in Sachsen“ (www.ehs-dresden.de/smartejugendarbeit) wurden in den Jahren 2019 bis 2021 Interviews mit Fachkräften der Jugendarbeit in Sachsen geführt. Ein Ergebnis dieser Einblicke in die Praxis ist der nun vorliegende Artikel „Anregungen für eine gemeinwesenorientierte Mobile Jugendarbeit im digitalen Wandel“ von Johannes Brock und Kai Fritzsche.

Der LAK Mobile Jugendarbeit Sachsen wird diesen als dreiteilige Blog-Serie veröffentlichen und möchte damit wiederum Impulse in die Praxis geben, zur Diskussion anregen und zur Weiterentwicklung des Arbeitsfeldes Mobile Jugendarbeit/ Streetwork beitragen. Wir bedanken uns ganz herzlich bei Johannes Brock und Kai Fritzsche für die Zurverfügungstellung dieses Artikels. Ebenfalls bedanken wir uns bei den interviewten Fachkräften, die ihre produktiven Ideen, Meinungen und Überlegungen dieser Forschungsarbeit zur Verfügung stellten.

Fortsetzung von Teil 2

Gaming, Partizipation und Bildung in der Aufsuchenden Jugendarbeit

Ausgehend von Überlegungen zu verschiedenen digitalen Kontaktformen in der aufsuchenden Jugendarbeit sollen nun Beispiele genannt werden, wie über digitale Medien – zum Beispiel über Online-Spiele – zu Partizipation und Bildung als zentrale Ziele einer gemeinwesenorientierten Mobilen Jugendarbeit/ Streetwork beigetragen werden kann. Auf sogenannte Serious Games, die erklärtermaßen beteiligend und bildend wirken sollen, wird dabei nicht eingegangen. Sie sind in der aufsuchenden Jugendarbeit weniger von Bedeutung. Der Fokus soll vielmehr auf Räume gerichtet sein, in welche die jungen Menschen die Fachkräfte (als Gäste) auch einladen können.

„Einerseits fragen wir, wenn wir Leute neu kennenlernen auf der Straße und ihnen unseren Flyer geben, ob sie auf Instagram sind oder so, und dann folgen uns schon einige von ihnen. Und wir fragen dann nach: Ist es o.k., wenn wir euch auch folgen? Da kriegen wir durch die Bank weg nur positives Feedback. Weil die Aufmerksamkeitslogik von Instagram den Jugendlichen auch affirmativ bestätigt, dass: Je mehr Follower, umso besser und präsenter bist du. Dementsprechend haben wir da nie Ablehnung bekommen.  Andererseits bin ich auch Jugendlichen, die ich über ihren Account als Zielgruppe im Stadtteil identifiziert habe, auch zurückgefolgt. Meistens ist es auch eindeutig: Die Leute haben ihr Alter im Profil stehen, ihre Postleitzahl. Man sieht auch, welche Accounts diesem Account auch noch folgen, und wenn man dann sieht: 17 Jahre, die richtige Postleitzahl und fünf Accounts von Leuten, die wir aus der Streetwork schon kennen, dann ist es ziemlich sicher ein Jugendlicher, der hier im Stadtteil wohnt“ (Fk_20)[1].

Christiane Bollig unterscheidet für eine virtuell-aufsuchende Jugendarbeit (vgl. Bollig/Keppeler 2015) drei Formen des Kontaktaufbaus:

  • Die direkte bzw. gezielte Kontaktform: Die Fachkraft registriert sich auf einer digitalen Plattform und spricht bzw. schreibt im Anschluss gezielt junge Menschen an. Vorteil: Die jungen Menschen sind so besser zu erreichen als im physischen Raum. Sie haben die Möglichkeit, auf die Anrede zu reagieren, ohne die Regeln der Face-to-Face-Kommunikation beachten zu müssen.
  • Die indirekte bzw. defensive Kontaktform: Die Fachkraft registriert sich auf einer digitalen Plattform und erstellt ebenfalls ein Profil. Allerdings wartet sie in diesem Fall, bis sie vonseiten der jungen Menschen kontaktiert wird. Die digitale Präsenz wird nicht extra beworben, sondern entweder mündlich in Gesprächen mit Jugendlichen gestreut oder schriftlich (bspw. auf einem Flyer) platziert. Vorteil: Die jungen Menschen entscheiden eigenständig, ob, wann und in welcher Form das Kontaktangebot in Anspruch genommen wird. Sie können bei Bedarf in Kontakt mit der Fachkraft treten, ohne dass andere in der Gruppe davon Kenntnis erlangen.
  • Die verdeckte bzw. stille Kontaktform: Die Fachkraft stöbert nach Erstellung eines Profils verdeckt bzw. für die Adressat*innen nicht sichtbar auf deren Profilen und Accounts, die bei Jugendlichen oftmals öffentlich zugänglich und für alle sichtbar sind. Vorteil: Sie erhält einen vertieften Einblick in deren Lebenswelten und erlangt eine Vielzahl an Informationen. Sie erhält die Möglichkeit, auf ehrenamtliches Engagement, künstlerisches Schaffen (z. B. Graffiti, Hip-Hop) oder sportliche Aktivität (z. B. Basketball, E-Sport), aber auch auf problematische Entwicklungen schnell zu reagieren (vgl. LAG MJA/SW Ba-Wü 2019).

Zunehmende Bedeutung für den Kontaktaufbau als auch für die Kontaktpflege erfährt das gemeinsame Online-Spiel als eine weitere Kontaktform. Die Fachkraft lässt sich einladen oder lädt selbst zum Zocken ein. Über eine Sprachkonferenzsoftware wird der Austausch während des Spiels ermöglicht. Ein Jugendarbeiter aus dem ländlichen Raum meint dazu: „Ich sehe das als Arbeit an, weil, darüber wird sich unterhalten, in diesem TeamSpeak erfährt man ganz viel. Das ist dieses klassische Gespräch: Früher sind sie nach der Schule vielleicht mal kurz heim und dann zum Treff gekommen. Dann haben welche mit gechillt, wir haben eine Runde Billard gespielt, uns dabei unterhalten. Und jetzt hockt der leider bei sich zu Hause, aber wir reden über TeamSpeak, also ich habe wenigstens diese Basis“ (FK_11).

Computerspiele sind digitale Massenmedien und in den Lebenswelten der meisten jungen Menschen fest verankert. Sie sind zugleich Spiel und interaktive Erzählung. Und sie sind fester Bestandteil der Populärkultur. Bestimmte Avatarfiguren sieht man „nicht nur auf den Bildschirmen unterschiedlicher Computerspiel-Plattformen, sondern genauso auf T-Shirts, Taschen oder Getränkedosen. Dabei gibt es neben klassischen Merchandising-Produkten auch eine Vielzahl von Computerspielfans selbst hergestellten Artefakten – es geht also um kreative Praktiken und um performative Aneignungsstrategien, die über das eigentliche Spiel-Erlebnis hinausgehen“ (Beil 2020, S. 277).

Der Streetworker Robert sieht es als seine Aufgabe an, diese kreativen Praktiken und Aneignungsprozesse zu unterstützen. Regelmäßig spielt er mit Jugendlichen aus „seinem“ Stadtteil. Einige kennt er von gemeinsamen Aktivitäten (Grillen, Musik hören) im Stadtpark. Aber die meisten kommen im Online-Spiel neu hinzu. Er beschreibt den gemeinsamen Prozess im Spiel: „Du startest in einer apokalyptischen Welt. Du fängst an mit ganz wenig Ausstattung. Du hast ein T-Shirt an und frierst. Also musst du dir einen Pullover looten. Erst mal für dich sorgen, dass du klarkommst. Wir sind durch drei Dörfer gelaufen, haben Dinge gelootet. Wichtig war, dass wir dabei miteinander reden konnten. Wir waren über Discord miteinander verbunden als Gruppe. Und da habe ich mich den anderen vorgestellt. Und ich habe gesagt: „Ich bin Sozialarbeiter, ich werde niemanden erschießen“. Damit hatte ich gleich eine Rolle in der Gruppe. Ich habe gesagt: „Ich bin gern hier mit euch unterwegs hier in eurem Raum, aber ich werde keine Menschen töten“. Dann kamen wir nach und nach ins Gespräch. Du redest ja nicht die ganze Zeit über das Spiel, sondern du redest ja auch über andere Sachen“ (Fk_21). Für Robert sind im Prozess des gemeinsamen Spielens die gleichen Gruppenprozesse erkennbar, die er aus seiner Arbeit in Face-to-Face-Gruppensettings kennt. Es geht um Rollenklärung, um das Aushandeln, welche Normen geteilt werden und welche nicht geteilten Normen akzeptiert werden können. Es geht um Beziehungsdynamiken, z. B. bei der Bildung von Kleingruppen, wenn bestimmte Aufgaben im Spiel bewältigt werden müssen. Es geht um Aushandlungsprozesse der Macht, wenn im Spiel schnell eine Entscheidung getroffen werden muss. Die Position des Streetworkers ist dabei nicht einfach zu verorten. Einerseits gehört er als Mitspieler zur Gruppe und ist in alle Entscheidungsprozesse einbezogen. Andererseits bleibt er trotzdem der „Andere“, der Erwachsene, der Pädagoge. „Ich musste mich aus der Gruppendynamik immer bisschen rausziehen. Andererseits habe ich viele Regeln mitbestimmt. Wenn unmittelbare körperliche Feedbacks fehlen, z. B. Mimik und Gestik, wenn du es nicht über Mimik rüberbringen kannst, machst du es oft über Regeln“ beschreibt Robert den Spagat.

Wenn er selbst zum Zocken einlädt, bevorzugt er Spiele mit hohem gruppendynamischen Potential. „Du startest als Mannschaft und hast z. B. ein Schiff. Du musst als Gruppe das Schiff steuern. Einer steuert. Einer muss sich mit den Kanonen auskennen. Leute müssen Kanonenkugeln looten. Wer kümmert sich um das Segel? Es darf andere nicht behindern. Andere müssen Bretter sammeln. Das ist alles nötig, während du als Gruppe unterwegs bist. Wer spricht wen an? Wer gibt Kommandos? Wer macht Komplimente und kommentiert? Auf wen verlässt sich die Gruppe in riskanten Situationen oder bei Angriffen? Du sprichst dich über einen Sprachchat ab, musst viel kommunizieren. Du kannst jemanden voten, sodass er in den Knast kommt. Der kann dann nichts mehr machen. Das ist Gruppenarbeit pur“ (Fk_21).

Wir wurden angegriffen auf jeden Fall. Es gab auch Diss von anderen Gruppen. Du musst dir das Spiel als Gemeinwesen vorstellen.

Robert

Die Spieler*innen sind im Game an Prozessen beteiligt, die aus der Gemeinwesenarbeit bekannt sind. Es gibt Aufgaben zu bewältigen, die allein nicht zu schaffen sind. Man muss sich zusammentun, die Kräfte bündeln und nach einer gemeinsam entwickelten Strategie handeln. Die Spieler*innen treffen auf Gruppen, die ihnen feindlich gesonnen sind und Gruppen, mit denen sie kooperieren können. „Wir wurden angegriffen auf jeden Fall. Es gab auch Diss von anderen Gruppen. Du musst dir das Spiel als Gemeinwesen vorstellen. Es verbünden sich ja auch Gruppen miteinander. Du kannst dein eigenes Camp aufmachen. Du kannst Gegenstände aufnehmen und dein Camp bauen. Du hast dadurch immer kleine gemeinsame Ziele“ (Fk_21).

Diese Prozesse finden nicht losgelöst von der Lebenswirklichkeit der Jugendlichen in einer künstlichen Welt statt, sondern wirken sich selbstverständlich in den Lebenswelten der Jugendlichen aus. Robert beschreibt das so: „Viele gehen davon aus, dass du entweder mit den Jugendlichen draußen bist oder mit ihnen zockst. Aber es ist beides. Wenn ich in DayZ Holz sammle und ein Feuerzeug finde, wo ich noch Gas looten muss und mache da Feuer, dann haben wir auch ein Thema. Dann kommt mein Vorschlag, dass wir auch mal draußen in der „realen“ Welt Feuer machen. Das ist niedrigschwellig: Es machen Leute Feuer, die das in der „realen“ Welt nie machen würden. Die googeln dann, wie das geht. Was brauchen wir für Holz zum Feuer machen? Also es müssen Gruppenspiele sein mit viel Gestaltungsfreiheit, wo man etwas bauen kann. Wo man kreativ sein kann, sich Raum aneignen kann. Du musst dich mit den anderen absprechen: Was machen wir hier? Und dann wird das zum Raum“ (Fk_21).

„Teilhabe bedeutet heute digitale Teilhabe. Wer nicht in Sozialen Netzwerken oder über den einen Messenger erreichbar ist, gehört im Zweifelsfall nicht mehr dazu, ist uninformiert, wird nicht gesehen und gehört. Partizipation ist für Jugendliche somit untrennbar mit Digitalität verknüpft“ (Tillmann/ Helbig 2017, S. 23 und 24). Im Anschluss an die Überlegungen zu hybriden Räumen kann Partizipation verstanden werden als Anteilnahme an den Entwicklungen im Gemeinwesen, also im physischen Raum und im virtuellen Raum. Im Sinne von Raumerweiterung durch Verschiebung der Grenzen können Fachkräfte zur kritischen Reflexion der Aktivitäten und zu digitaler Souveränität anregen. Der Streetworker Robert problematisierte beispielsweise die Nutzung eines bestimmten Online-Dienstes für den Gruppenchat beim Online-Spiel mit den Jugendlichen. Aus den Diskussionen dazu entstanden Ideen für die Nutzung von Open Source-Anwendungen und für die Einrichtung lokaler Server im Gemeinwesen. In nächsten Schritten könnte überlegt werden, welche relevanten Gremien und Unterstützer gemeinsam mit den Jugendlichen angesprochen werden mit dem Ziel, lokale Server z. B. in der öffentlichen Bibliothek oder in der Kirchgemeinde zu installieren und zu betreuen. Das sind ressourcenaufwendige Projekte, die häufig nur durch Vernetzung mit anderen Akteuren im Gemeinwesen umgesetzt werden können.

Nach Wagner und Gebel (vgl. Wagner/Gebel 2014) können für das Medienhandeln der Jugendlichen drei Dimensionen der Partizipation unterschieden werden:

  • Jugendliche positionieren sich: Jugendliche positionieren sich, indem sie Zuordnungen und Abgrenzungen vornehmen. Vor allem am Medienhandeln in sozialen Netzwerken ist zu erkennen, dass Jugendliche Positionen beziehen. Sie greifen dabei Impulse anderer auf, schließen sich Positionen anderer an oder wechseln Gruppenmitgliedschaften. Die Positionierungen beziehen sich auf aktuelle gesellschaftliche Diskurse oder auf Phänomene der (Netz-)Kultur. Sie drücken sich aus in Statements per Schrift- und Bildsprache, in Gestaltungen von Status- und Profilangaben und in der Zugehörigkeit oder Abgrenzung zu bestimmten Gruppen. 
  • Jugendliche bringen sich ein: Jugendliche artikulieren eigene Perspektiven und laden zum Austausch über eigene Aktivitäten ein.  In Beiträgen auf Blogs und Videokanälen oder im Posting auf Social Media Plattformen drücken sie ihre Meinung aus und setzen eigene Impulse. Diese Kreativität zeigt sich nicht nur in politischen oder kulturellen Aktionen, die dokumentiert und kommentiert werden, sondern auch in Praktiken des Remix und Mashups.
  • Jugendliche aktivieren andere: Andere Menschen sollen zu konkretem Engagement, zur Unterstützung von Ideen oder Kampagnen oder zum Mitmachen bei Aktionen motiviert werden. Die Aktivierung reicht von der Ankündigung von Aktionen mit der Bitte um Weiterverbreitung dieser Ankündigung, über die Aufforderung zur Beteiligung an Online-Petitionen, bis hin zur Einbindung in komplexe Vorbereitungen öffentlichkeitswirksamer Aktionen mit zahlreichen Beteiligten.

„Wagner und Gebel (2014, S. 179) arbeiten in ihrer Studie weiterhin heraus, dass Partizipation in digitalisierten Welten abhängig ist von:

  • lebensweltlichen Ressourcen (z. B. Zugang, Anregung, Unterstützung und Anerkennung durch Familie oder Peergroup)
  • Ressourcen, die auch über das Medienhandeln selbst erworben werden (z. B. Orientierung, soziale Unterstützung, Medienkompetenz)“ (Tillmann/Helbig 2017, S. 22 und 23).

Bildung in der aufsuchenden Jugendarbeit ist in aller Regel informelle Bildung. Im Unterschied zu den formalen und non-formalen Bildungssettings der Schule oder der Maßnahmen von Bildungsträgern für benachteiligte Jugendliche sind informelle Bildungsprozesse nicht an definierte Bildungsorte und nicht an ein strukturiertes Bildungsprogramm gebunden. Bildungsprozesse finden selbstorganisiert statt, auch wenn sie von Streetworker*innen angeregt werden. Sie sind niedrigschwellig, lebenswelt- und alltagsbezogen. In digitalisierten Lebenswelten sind informelle Bildungsprozesse zunehmend über digitale Medien vermittelt. Für die Anregung und fachliche Begleitung solcher Bildungsprozesse können beispielsweise BACK-Tools verwendet. Mit BACK-Tools werden Jugendliche eingeladen zu Begegnung, Austausch, Computergestützter Bildung, Kollaboration.

BACK-Tools sind Zutaten, mit denen die Jugendlichen sich ein Produkt backen können. Es gibt ein Grundrezept, aber die Menge und das Verhältnis der Zutaten kann variieren. Wie beim Backen geht es um den Spaß bei der Herstellung, aber auch um den Nutzen des fertigen Produkts.

BACK-Tools ermöglichen gemeinsames, spielerisches Lernen in virtuellen Räumen. Diese entstehen aus der Kombination verschiedener Open Source Tools, die jeweils für Kinder und Jugendliche geeignete Gestaltungselemente enthalten. Aus diesen Elementen können Straßen, Häuser, Werkstätten, Landschaften und Städte gebaut werden, die zahlreiche Bildungsanreize setzen. Beispielsweise führen verlinkte Gestaltungselemente zu Umfragen, Notizbüchern, Spielen, Whiteboards, Videokonferenzen, Filmen, Diskussionen zu vorher gemeinsam vereinbarten Themen, Chillzonen, Lernprogrammen, geschlossenen Breakoutrooms für ungestörte Gespräche usw. Die Jugendlichen wählen und gestalten ihren Avatar und bewegen sich damit im gemeinsam gestalteten Raum. Sie diskutieren Regeln oder kommunizieren mit anderen in der Küche am Tisch über ausliegende Rezepte oder ziehen sich an ein virtuelles Lagerfeuer zurück. Sie können sich diese Räume als „ihre Räume“ einrichten und entscheiden, wann und wo sie mit den begleitenden Streetworker*innen in Kontakt kommen. Optional können die Räume zu einem dauerhaft bestehenden virtuellen Jugendtreff mit festen Kontaktzeiten mit den Streetworker*innen oder auch zu einer Straßenschule ausgebaut werden. Die Anwendungen können Referenzen zum physischen Gemeinwesen bieten, zum Teil auch mit diesem vernetzt sein. Sie sollen auf lokalen Servern laufen und dem Prinzip der Datensparsamkeit entsprechen. Eine Koordinierungsstelle kann den technischen Support bieten, die Tools sammeln, sie auf datensichere Verwendung prüfen und die Zusammenarbeit zwischen den beteiligten Fachkräften, einem Unterstützungsnetzwerk und ggf. der Kommune steuern.

Prinzipien der Anwendung solcher digitalen Tools in der aufsuchenden Arbeit sind sorgfältige Beachtung des Datenschutzes und der Schweigepflicht, Partizipation, Datensparsamkeit, Open Source, Aufbau auf lokalen Servern und Netzwerken, Abstimmung auf das Medienhandeln der Adressat*innen. Dieses ist häufig bedingt von begrenzten Ressourcen. So schränkte beispielsweise ein Streetworker bei einer Diskussion zum Medienhandeln der Jugendlichen ein: „Es ist auch immer noch so die Frage, hat unser Klientel auch die Möglichkeit, überhaupt Internet zu bedienen, also ist es für sie verfügbar oder müssen sie zu uns kommen, um mal Internet nutzen zu können? Oder haben sie auch Smartphones, und wenn sie Smartphones haben, haben sie ein Guthaben drauf, können sie mobile Daten nutzen?“ (FK_7). Deshalb soll an dieser Stelle noch einmal an den Streetworker Robert erinnert werden, der als eine der wichtigsten Voraussetzungen für Streetwork ein Gerät für die Herstellung einer stabilen Internetverbindung in seinen Bollerwagen packte. Darüber hinaus weist der Einwand aber auch auf den Auftrag hin, den Fachkräfte in der Gemeinwesenarbeit umzusetzen haben: Mitwirkung bei der Herstellung der Grundversorgung einer Internetanbindung für ihre Adressat*innen. Dieses Ziel kann schrittweise über Initiativen für kostenfreies WLAN in Jugendtreffs, auf Marktplätzen, in Innenstädten verfolgt werden. Es können aber auch Initiativen für unabhängige Netze unterstützt werden, durchaus mit aktiver Beteiligung der jungen Menschen. Ein Streetworker, der in einer Großstadt Jugendliche am Konzept und an der Umsetzung von Freifunk beteiligte, berichtet von seinen Erfahrungen: „Also alle wollen kostenloses WLAN haben in diesem Alter. Die finden das geil Freifunk zu nutzen als Initiative und als Software. Okay, ich beteilige junge Menschen auch bei der Entwicklung oder der Weiterentwicklung oder der stärkeren Implementierung von freien Bürgernetzen. Gebe denen im Endeffekt durch das Handeln im Projekt auch Tools an die Hand und Kompetenzen, dann verstehen die, wie Netz funktioniert. Also verstehen ein bisschen besser, wie das Internet funktionieren könnte. Verstehen die technischen Grundlagen und können es für sich umsetzen. Und haben am Ende auch einen Nutzen“ (FK_5). Der Nutzen besteht nicht nur im Gewinn eines kostenfreien WLANs oder im Zuwachs technischen Wissens. Sondern die Initiative bewirkt gleichzeitig die Einbindung in das Gemeinwesen. Freifunk funktioniert über den Zusammenschluss verschiedener Freifunk-Router zu einem Mesh-Netzwerk. Privatpersonen im Stadtteil, Gewerbetreibende, Kirchen, Bibliotheken usw. können sich beteiligen, indem sie solche Router aufstellen. Zusammen mit interessierten Jugendlichen nimmt der Streetworker Kontakt zu ihnen auf und initiiert ein erstes Treffen. Zu diesem lädt er erfahrene Freifunker ein, die weitergehende Fragen beantworten können. „Es ist Hilfe zur Selbsthilfe im Endeffekt. Wir gucken, was es braucht, holen uns dann die Experten von den Freifunkern dazu, die uns nochmal alles erklären. Und dann suchen wir uns die passenden Standorte. Und auch die Gewerbetreibenden müssen für sich selbst entscheiden, ob sie mitmachen wollen oder nicht. Also das ist die Idee, das ist auch eine Form von aktivierender Gemeinwesenarbeit im Endeffekt“ (FK_5).


Dies war der letzte Teil der Blogserie zu einer gemeinwesenorientierten Mobilen Jugendarbeit im digitalen Wandel. Der gesamte Beitrag von Johannes Brock und Kai Fritzsche kann als PDF hier heruntergeladen werden: Anregungen für eine gemeinwesenorientierte Mobile Jugendarbeit im digitalen Wandel


[1] In dieser Handreichung werden Auszüge aus Interviews verwendet, die mit Fachkräften der Jugendarbeit in Sachsen geführt wurden. Die Interviews wurden im Rahmen des Forschungsprojekts „Smarte Jugendarbeit in Sachsen“ durchgeführt. Dieses Forschungs- und Praxisentwicklungsprojekt arbeitete in den Jahren 2018 bis 2021 am apfe-Institut an der Evangelischen Hochschule Dresden. Die Zitate werden durch das Kürzel FK_x (Fachkräfte-Interview Nr. x) kenntlich gemacht. Nähere Angaben zum Forschungsprojekt enthält die Seite www.ehs-dresden.de/smartejugendarbeit.


Literatur

Beil, Benjamin (2020): Game Studies und Gaming Cultures. In: Friese, Heidrun et al. (Hrsg.): Handbuch Soziale Praktiken und Digitale Alltagswelten, S. 273-281. Wiesbaden: Springer VS 

Bollig, Christiane/ Keppeler, Siegfried (2015): Virtuell-aufsuchende Arbeit in der Jugend-sozialarbeit. In: Kutscher, Nadia/ Ley, Thomas/ Seelmeyer, Udo (Hrsg.): Mediatisierung (in) der Sozialen Arbeit. Reihe Grundlagen der Sozialen Arbeit, Band 38, S. 94 –114. Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren.

Landesarbeitsgemeinschaft Mobile Jugendarbeit/ Streetwork Baden-Württemberg e.V. (2019): Digital.Total?! Handreichung zum Umgang mit Social Media in der Mobilen Jugendarbeit. Stuttgart

Tillmann, Angela/ Helbig, Christian (2017): Kulturelle Partizipation Jugendlicher in einer digitalisierten Gesellschaft. In: Sieben, Gerda (Hrsg.): Occupy Culture! Das Potenzial digitaler Medien in der Kulturvermittlung. München: kopaed

Wagner, Ulricke/ Gebel, Christa (2014): Jugendliche und die Aneignung politischer Information in Online-Medien. Wiesbaden: Springer VS